Inklusion, Ideologie oder Förderung? (15.07.2014)

Es geht durch die Medien. Mal wollen Eltern, dass ihr Kind auf das Gymnasium geht, obwohl sie selbst der Auffassung sind, dass es die Lernziele dort nicht erreichen wird. Mal wollen Eltern, dass ihr Kind nicht in die Grundschule, sondern auf eine Förderschule geht, da es dort angeblich besser gefördert wird als in der allgemeinen Grundschule. Was soll man davon halten?

Wer möchte kann sich zunächst Artikel 24 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durchlesen.

Aber lassen Sie mich beginnen mit einem Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 18.11.2010 mit dem schönen Titel „Pädagogische und rechtliche Aspekte der Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der schulischen Bildung“.

Es wird dort u.a. ausgeführt:

„… Artikel 24 des Übereinkommens begründet für die schulische Bildung eine staatliche Verpflichtung, die dem Vorbehalt der progressiven Realisierung unterliegt. Das heißt, dass die Verwirklichung nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums erreicht
werden kann und dass eine Konkurrenz zu anderen gleichrangigen staatlichen Aufgaben besteht. Die Umsetzung des Übereinkommens ist damit als gesamtgesellschaftliches komplexes Vorhaben längerfristig und schrittweise angelegt. Subjektive Rechtsansprüche werden erst durch gesetzgeberische Umsetzungsakte begründet. …“

„… Sonderpädagogische Förderung leistet bei der schulischen Bildung und Erziehung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf unmittelbar an der allgemeinen Schule oder in Kooperation mit Lehrerinnen und Lehrern der allgemeinen Schule ihren schüler- und damit systembezogenen Beitrag zur individuellen Förderung. Für die Verwirklichung inklusiver Bildung ist das Zusammenwirken der allgemeinen Pädagogik mit der Sonderpädagogik unabdingbar. Sie gestalten miteinander unter Berücksichtigung der jeweiligen berufsspezifischen Kompetenzen diesen gemeinsamen Kernraum. Die Lehrkräfte aller Schularten sollen in den verschiedenen Ausbildungsphasen für den gemeinsamen Unterricht aller Schülerinnen und Schüler vorbereitet und fortgebildet
werden, um die erforderlichen Kompetenzen zum Umgang mit unterschiedlichsten
Ausprägungen von Heterogenität zu erwerben….“

„… Förderschulen zeichnen sich durch ihre spezifischen sonderpädagogischen Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote aus. Sie arbeiten mit Partnern aus Medizin, Sozial- oder Jugendhilfe eng zusammen. Förderschulen mit spezifischen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten sind sowohl Lernorte mit eigenen Bildungsangeboten als auch Kompetenz- / Förderzentren (in den Ländern gibt es unterschiedliche Bezeichnungen) mit sonderpädagogischen Angeboten in den allgemeinen Schulen. Damit sind sie je nach Bedarf alternative oder ergänzende Lernorte. Sie können – auch als Kompetenz- / Förderzentren – eigene Bildungsangebote vorhalten und unterstützen die schulische Förderung von Kindern
und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der allgemeinen Schule. Die Professionalität der Sonderpädagogen ist zu sichern und durch kollegialen Austausch, Fort- und Weiterbildung zu ermöglichen. …“

„… Bei allen schulischen Maßnahmen und Entscheidungen steht das Kindeswohl im Vordergrund. Die Rechte der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und die Rechte der Mitschülerinnen und Mitschüler sind zu berücksichtigen. …“

„… Das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern in der allgemeinen Schule erfordert personelle, sächliche und räumliche Grundlagen. Schritte zur Sicherung dieser Voraussetzungen sind von den Ländern und den Kommunen einzuleiten. Das allgemeine Bildungssystem ist aufgefordert, sich auf die Ausweitung seiner Aufgabenstellungen im Sinne einer inklusiven Bildung und Erziehung vorzubereiten. Dies erfolgt im engen Zusammenwirken mit den unterschiedlichen Kosten- und Leistungsträgern. Insbesondere sind die Träger von Eingliederungshilfen nach dem Sozialgesetzbuch entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten, Kompetenzen und Aufgaben frühzeitig einzubeziehen. Dies gilt insbesondere für Sicherstellung der Barrierefreiheit, Sicherstellung der Schülerbeförderung, Ausstattung mit vielfältigen Lehr- und Lernmitteln, Gewährleisten von Nachteilsausgleich, Assistenz und angemessener Kommunikationsmöglichkeiten sowie das Einbeziehen anderer Fachdienste. Eine abgestimmte Regionalplanung und gemeinsame Umsetzungskonzepte der verschiedenen Kostenträger und sonstigen Beteiligten sind für diesen Prozess erforderlich. …“

Die Essenz dieser vielen Worte:

Entscheidend ist das Wohl des einzelnen Kindes. Wie kann ihm die Schule am besten gerecht werden? Nur dadurch, dass die bisher in den sonderpädagogischen Schulen vorhandenen Hilfen vollständig in die Regelschule umgesetzt werden. Die Kompetenz der Sonderpädagogik muss vollständig in die Regelschule integriert sein.

Gegenwärtig habe ich eher den Eindruck, dass man diese sonderpädagogische Arbeit den in den Regelschulen vorhandenen Lehrern aufs Auge drücken will. Vielleicht noch gepaart mit einem ehrenamtlichen Helfer für diejenigen, die der Sonderpädagogik bedürfen.

Und schon haben die Kultusminister viel Geld gespart. Zu Lasten der Regelschulen und ihrer bisherigen Schüler. Aber noch mehr unter die Räder werden diejenigen kommen, die auf die Kompetenz der Sonderpädagogik angewiesen sind.

Realität:

In Baden-Württemberg gab es den Jungen Henri mit Down-Syndrom dessen Eltern wollten, dass er auf das Gymnasium geht, weil die Mehrheit seiner Klassenkameraden aus der Grundschule ebenfalls dorthin gehen. Das Gymnasium lehnte ab, ebenso die Realschule, zu der ebenfalls viele Klassenkameraden gehen.

Die Einzelheiten der jeweiligen Argumente können Sie in der angegebenen Quelle nachlesen. Entscheidend ist für mich eine Frage, die immer wieder umgangen wird:

Sollen Kinder, die dem Unterricht kaum oder gar nicht folgen können und bei denen absehbar ist, dass sie den Abschluss, sei es Abitur oder mittlere Reife, nicht erreichen, trotzdem die Realschule oder das Gymnasium besuchen?

Und falls man diese Frage für behinderte Schüler bejaht, was ist mit den anderen, die keine Behinderung haben, aber aus anderen Gründen nie das Schulziel erreichen können? Sollen diese ebenfalls weiterführende Schulen besuchen können, um mit ihren alten Klassenkameraden zusammen sein zu können?

So hart das jetzt klingen mag, aber diese zweite Frage macht klar, was das Ergebnis ist. Ein klares Nein. Hinzu kommt, dass der Junge auch in seinem späteren Leben immer wieder das soziale Umfeld wird wechseln müssen. Dies gilt für jeden. Und ganz schlimm finde ich, dass der Junge nichts als Misserlebnisse in der weiterführenden Schule haben wird.

Aber es gibt auch das Gegenteil. Im Sauerland kämpfen Eltern um den Erhalt der Förderschulen, weil ihr Sohn, der Max, in der Grundschule hoffnungslos überfordert ist. Sie nahmen ihren Sohn von der Grundschule und brachten ihn in eine Schule für Kinder mit Lernbehinderungen. Auch hier können Sie die Details in der angegebenen Quelle nachlesen.

Dort lernt er langsam aber stetig und muss sich nicht Sätze anhören wie „Prima, Max! Lass dich nicht entmutigen. Wortfragmente sind erkennbar“, obwohl er nicht wirklich etwas zustande brachte. Solche Veralberungen braucht kein Kind.

Die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen (NRW) ist jedoch wild entschlossen die Inklusionsquote bis 2017 auf 50 Prozent zu erhöhen. Und es gibt eine neue Verordnung über Mindestgrößen von Förderschulen von der grünen Kultusministerin, Frau Löhrmann. So müssen z.B. Schulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen mindestens 144 Schüler haben, bisher genügten 72. Die Schule von Max hat 90 Schüler. Insgesamt stehen mit dieser neuen Regelung zwei Drittel der 284 Förderschulen für Lernbehinderte in NRW vor der Schließung.

Damit ist das Wahlrecht, das die Eltern laut Gesetz haben nur noch eine Farce.

Und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die allgemeinbildenden Schulen noch so gut wie keine Kompetenz für Schüler mit sonderpädagogischem Bedarf aufbauen konnten, weder personell noch sächlich oder räumlich.

Wenn Frau Löhrmann argumentiert, dass das Land keine Schulformen abschaffe und keine Schule schließe, so ist dies bestenfalls Hohn für die betroffenen Menschen. Vollkommen zynisch wird es, wenn Frau Löhrmann sich darauf beruft, dass der Landesrechnungshof immer wieder kritisiert habe, dass ein erheblicher Teil der Förderschulen zu klein sei.

Geld schlägt Pädagogik. Es scheint nur noch darum zu gehen, dass Behinderte irgendwie mit im Klassenzimmer sind.

Und damit schließt sich der Kreis. Die Sonderpädagogik wird nicht in der Weise in die allgemeinbildenden Schulen integriert, wie es im eingangs genannten Beschluss der Kultusminister gefordert wird, zugleich aber soll die allgemeinbildende Schule dasselbe leisten. Dies gilt nicht nur für NRW.

Man kann nicht umhin zu vermuten, dass die Inklusion für manchen Kultusminister ein gefundenes Sparprogramm zu Lasten der Schwächsten ist. Und da hilft es natürlich, dass man die Inklusion zur Ideologie erhöht und jeden als Diskriminierer beschimpfen kann, der dies klar benennt.

Wie sagt doch die Mutter von Max: „Max soll nicht wieder als Regelfall behandelt und täglich beschämt werden, weil er nicht mitkommt und an seinen Fehlern gemessen wird. Das ist keine Inklusion, das ist Exklusion, das macht Kinderseelen kaputt.“

So ist es, wenn man Ideologie als Ziel hat, statt die Interessen und Wünsche des einzelnen Menschen.